Von der Sünde zur Straftat ? Strafrechtstheorie in der türkischen Rezeptions- und Kodifikationsgeschichte ?

AuthorZekai Dagasan
Pages379-414
İnönü Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi Cilt:3 Sayı:1 Yıl 2012 379
Von der Sünde zur Straftat
Strafrechtstheorie in der türkischen Rezeptions-
und Kodifikationsgeschichte
Zekai Dağaşan
„Man importiert [...] weder fremdes Recht noch
fremde Gesetzbücher, sondern fremdes Kulturgut“1.
Ernst E. Hirsch2
A) Begriffliche Vorbemerkungen
I. Rezeption3 und Strafrechtstheorie
Möchte man sich der Entwicklung des Strafrechtstheorieverständnisses
einer Strafrechtsordnung annähern, die traditionell eine stark
rechtsvergleichende Ausrichtung aufweist, darf das untersuchende Auge
nicht blind sein für Einflüsse, die ihren Ursprung außerhalb der zu
untersuchenden Rechtsordnung haben. Insoweit kann die Annäherung von
Bisoukides an den Begriff „Recht eines Volkes“ noch heute Geltung
Wissenschaftliche Hilfskraft - Fern Universität in Hagen - Institut für juristische
Zeitgeschichte
1 Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, Berlin 1981, S. 12.
2 Er nst Eduard Hirsch (19021985) war ein deutscher Jurist und Rechtssoziologe. Er hat
seit 1933 an der Universität Istanbul gelehrt und war maßgeblich an der Vorbereitung
verschiedener Gesetzesentwürfe beteiligt. Anfang der 1950er Jahre kehrte er nach
Deutschland zurück und setzte seine akademische Laufbahn an der FU Berlin fort. Siehe:
Meissner, Ernst Ed uard Hirsch (19021985). Die Vorlesung des deutschen Juristen war
Stadtgespräch in Istanbul: Zum hundersten Geburtstag, in: Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch
der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 4 (2002/2003), S. 366368.
3 Bozkurt, Batı Hukukun Türkiye’de Benimsenmesi, Ankara 1996. Rumpf, Rezeption und
Verfassungsordnung: Beispiel Türkei, 2001 (abrufbar unter: www.tuerkei-recht.de
/Rezeption.pdf). Azrak, Tanzimat’tan sonra resepsiyon, in: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e
Türkiye Ansiklopedisi, Istanbul 1985, Bd. 3, S. 602 ff. Hakeri, Geschichte des
türkischen Strafrechts und auslän dische Einflüsse auf die türkische Strafrechtsdogmatik,
in: Hilgendorf (Hrsg.) Das Strafrecht im deutsch-türkischen Rechtsvergleich, Würzburg
2009, S. 73102. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozeßrecht in der Türkei, 70 Jahre
nach der Gründung, in: Scholler / Tellenbach (Hrsg.), Westliche Recht in der Republik
Türkei 70 Jahre nach der Gründung, Baden Baden 1996, S. 145–170.
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beanspruchen. Er unterscheidet zwischen dem Recht eines Volkes im
engeren und weiteren Sinne, also einerseits dem Recht, das ein Volk „aus
seinen Lebens-, Sitten- und Rechtsanschauungen heraus selbst gebildet“
hat und andererseits dem Recht,
„das innerhalb der staatlichen Grenzen einer Volksgemeinschaft
gilt, einschließlich also auch derjenigen Rechtsgrundsätze und
Normen, die nicht als eigenes Kulturgut des betreffenden Volkes
betrachtet werden können, sondern vielmehr aus dem
Rechtsschatz anderer Völker herübergenommen und dem
Rechtsganzen jenes Volkes entweder in ursprünglicher oder in
angepaßter Form einverleibt worden sind.“4
Diese Form der Übernahme kann man als Rezeption (resepsiyon) fremden
Rechts bezeichnen. Rezeption beschreibt jedoch keinen Zustand, sondern
vielmehr einen stetig voranschreitenden Vorgang. Mit der Übernahme
eines fremden Gesetzes ist also nicht bereits rezipiert worden, sondern erst
durch die Verinnerlichung (benimsenme) des zu rezipierenden Rechts.
Hirsch, der wie eine Reihe anderer deutscher Akademiker während der
NS-Herrschaft in die Türkei emigrierte und in seiner anschließenden
akademischen Laufbahn ausgiebige Erfahrungen mit der Rezeption aus
türkischer Sicht fremden Rechts gemacht hat durch seine Beteiligung an
verschiedenen Gesetzesentwürfen5 selbst neue Rezeptionsvorgänge
initiierte –, versteht unter Rezeption „einen sozialen Prozeß“, durch den
das rechtliche Gedankengut, das über die durch den gesetzgeberischen
Akt hereingetragenen Normen eingeführt wird, in die Rechtswirklichkeit
umgesetzt wird6. Für diesen Ansatz ist charakteristisch, dass unter
Rezeption ein über den gesetzgeberischen Akt der Übernahme
hinausgehender Prozess verstanden wird. Hirsch weist dem durch die
4 Bisoukides, Osmanisch-türkisches Recht, Mit geschichtlich-dogmatischer Uebersicht
über das Scheriatrecht, Berlin 1928, S. 1.
5 Einige der zum Gesetz erhobenen Entwürfe, die von Hirsch (mit)ausgearbeitet wurden,
sind d as Handelsgesetzbuch, Urh ebergesetz, Warenzeichengesetz un d Patentgesetz.
Darunter befindet sich auch das Gesetz über strafbare Handlungen gegen Atatürk, in dem
das Andenken Mustafa Kemal Atatürks (18811938) Gründer und erster Präsident der
Türkischen Republik – vor ö ffentlichen Beschimpfungen und Beleidigungen geschützt
werden soll, Gesetz Nr. 581 6 vom 25. Juli 1951. Siehe umfassender: Hirsch, Als
Rechtsgelehrter im Landes Atatürks, Berlin 2008, S. 224 ff.
6 Hirsch, a.a.O., S. 11 ff.
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İnönü Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi Cilt:3 Sayı:1 Yıl 2012 381
Rezeption integrierten neuen Gedankengut eine rechtsphilosophische,
rechtstechnische und eine rechtswissenschaftliche Dimension zu7.
Die vorliegenden Betrachtungen möchten den Schwerpunkt auf die
rechtsphilosophische und von dieser miterfassten strafrechtstheoretischen
Dimension legen. Denn die Strafrechtstheorie (ceza hukuku teorisi) die
über dem geschriebenen Strafrecht stehende, offene Fragestellung nach
dem Zweck (oder der Zweckfreiheit) der Strafe und die Frage nach dem
legitimen Umfang staatlichen Strafens mag auf das geschriebene Recht
zwar Einfluss genommen und erkennbaren Niederschlag gefunden haben.
Der die rechtsphilosophische Dimension in Rechtsprechung und
Wissenschaft würdigende Rezipient wird aus diesem Fundus aber auch
Aufträge für die Anwendung und gesetzgeberische Fortentwicklung des
positivrechtlichen Bereiches ableiten. Hier also kann sich einerseits
entscheiden, ob der Komplex des Rechtsschatzes in seiner Gesamtheit
erfasst worden ist und andererseits auch in diesem Sinne angewandt und
fortentwickelt wird8. Nun liegt in der Eigenart der türkischen Geschichte,
in welcher man den Weg vom islamischen Staat zu einer laizistischen
Republik ging, ein Spannungsverhältnis zwischen dem durch die
Aufklärung entstandenen Zeitgeist, der auch Einfluss auf das Strafrecht
und die Strafrechtstheorie nahm, und dem islamischen
Strafrechtsverständnis, das diesem modernen Begriff von Strafrecht eine
transzendental eingeschränkte Sicht entgegensetzte. Gerade dieser
Ausschnitt der Rezeptionsgeschichte kann zeigen, ob und inwieweit durch
7 Hirsch, a.a.O., S. 13. Nach Azrak beinhaltet die Rezeption (benimsenme) fremden Rechts
die Verinnerlichung dreier Ebenen. Hierbei handelt es sich um die (in systematischer und
gegebenenfalls sprachlicher Hinsicht angepassten) Übernahme des positiven Rechts (1.),
für die Auslegung des positiven Rechts um die Heranziehung der zu den übernommenen
Normen vorhandenen Rechtsprechung (2.) und um die stetige Beob achtung und
etwaigen Verwertung der im Ausland entwickelten Dogmatik (3.). Azrak, a.a.O., S. 602.
8 Auch wenn die Theorie in der Rezeption fremden Rechts so eine besondere Rolle spielen
kann, beschreibt diese besondere Konstellation aber einen ganz allgemeinen Vorgang,
der über die Grenzen einzelner Rechtsordnungen hinaus geht: Dönmezer / Erman
schreiben in ihrem Lehrbuch „Nazarî ve Tatbikî Ceza Hukuku“ (Theoretisches und
angewandtes Strafrecht) unter Hinweis auf Pradel (*1933) einem franzö sischen
Strafrechtler , dass das positiv gesetzte Recht und die Theorie in einem wechselseitigen
Verhältnis stehen, die Theorie einen aus Einzelheiten zusammengesetzten, allgemeinen
Meinungskomplex bildet, der für Einzelfragen einen Lösungsansatz bieten kann.
Dönmezer / Erman, Nazarî ve Tatbikî Ce za Hukuku, Bd. 1, 13. Aufl. Istanb ul 1997,
S. 49 f.; m. Hinweis auf: Pra del, Droit Pénal Général, 8. Aufl. Paris 1992.

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